Timm Ulrichs

Biographie

Timm Ulrichs
- Werbezentrale für Totalkunst / Banalismus / Extemporismus -
propagiert, projektiert, produziert und publiziert seit 1959
- konkrete / materiale / serielle / visuelle / kinetische Texte, Bilder, Gegenstände;
- interdisziplinäre / integrale / transitoristische Kunst, Permanent-Kunst, Instant Art, Placebo Art, Basic Art, Ideen-Kunst, Ich-Kunst, Kopf-Kunst, Körper-Kunst, Naturkunst, Panartistik;
- Totalkunst-Objekte, -Szenen, -Landschaften, -Expeditionen, Totalpoesie, Totalmusik, Totalfilm, Totaltheater

1940 in Berlin geboren
1954—59 in Bremen, Abitur
1959—66 Architektur-Studium an der Technischen Hochschule Hannover
als Künstler Autodidakt
1972 Professur am Institut für Kunsterzieher Münster der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf [seit 1987 Kunstakademie Münster]
 

Quelle:
Timm Ulrichs. Retrospektive 1960 - 1975, Herausgeber: Kunstverein Braunschweig, Braunschweig 1975, S. 101
 


Timm Ulrichs revisus

Von Richard W. Gassen

"Was die Schönheit sey, das weiß ich nit", sagte Albrecht Dürer zu Beginn des 16. Jahrhunderts und meinte damit die Frage nach der Kunst. Timm Ulrichs behauptet: "Kunst ist Leben, Leben ist Kunst"! Mit dieser Feststellung will er natürlich kein allgemeingültiges und alle Zeiten geltendes Kriterium für den Begriff Kunst festlegen - besteht doch vielleicht gerade die Kunst darin, die Frage nach der Kunst ständig offenzuhalten, sie immer neu zu stellen, eine endgültige Begriffsbestimmung zu verhindern, um den "Freiraum" Kunst nicht einzuengen. Die Behauptung reflektiert vielmehr eine individuelle Kunst-Praxis und -Theorie, charakterisiert präzise Timm Ulrichs' künstlerisches Programm: Der Totalität des Lebens entspricht die Totalität der Kunst.

Totalkunst, in der Folge von Jugendstil mit seinen Tendenzen zum Gesamtkunstwerk, Weimarer Bauhaus und Dada, hebt nicht nur die Trennung zwischen den einzelnen bildkünstlerischen Gattungen auf, sondern integriert auch Dichtung, Musik, Theater, Film, angewandte Kunst sowie außerkünstlerische Disziplinen wie die Naturwissenschaften, die Soziologie, die Statistik, kurzum sämtliche Bereiche menschlicher Aktivitäten. Totalkunst ist nach eigener Aussage "die neue Einstellung zu den Dingen, das neue Welt-Bild, die neue Welt-Anschauung" sowie "die Summe der gegebenen ästhetischen, poetischen und dramatischen Phänomene". "Die objektive Grenze der Totalkunst ist die Grenze des Weltalls", "Totalkunst ist das Leben selbst". Die Vorstellung der Deckungsgleichheit von Kunst und Leben ist eine - utopische - Forderung seitens des Künstlers, die er für sich zu realisieren sucht, Allgemeingut ist sie in der Tat (noch?) nicht. Kunst und Leben gelten weitverbreitet als ein Gegensatzpaar, das nicht so leicht in Einklang zu bringen ist.

Auch Joseph Beuys' Ausspruch "Alles ist Kunst" beschäftigt sich mit der Aufhebung des traditionellen Kunstbegriffs, mit der Gleichsetzung von Leben und Kunst. Sein Totalitätsbegriff, seine "plastische Theorie", beinhaltet, daß in jedem Mensch ein Künstler stecke, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, seine eigenen Fähigkeiten aufzufinden und auszubilden; daß Kunst nicht ein Prozeß ist, der an bestimmte Medien gebunden ist, sondern intermediär alle Lebensbereiche, alle menschlichen Tätigkeiten umfaßt; daß die Idee im Denken und Handeln der Menschen weiterlebt. Bei dieser theoretisch formulierten Gleichsetzung von Kunst und Leben wird es für den Bereich der Praxis problematisch: Eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs Kunst erscheint unmöglich, Kunst als eine eigenständige Seinskategorie wird hinfällig.

Für Timm Ulrichs ist nicht alles Kunst. "Ich kann keine Kunst mehr sehen" steht auf einem Schild zu lesen, das der Künstler, mit dunkler Brille, Armbinde und Blindenstock ausgestattet, um den Hals trägt (Nr. 69), und meint jene Kunst damit, die seiner Meinung nach nicht mit dem Leben in Beziehung zu setzen ist. „Ich kann und mag all jene Künste nicht mehr sehen, die als nur dekorativer Schein, als Deckmantel, als Trost- und Schönheitspflaster aktuelle Wunden bemänteln, verdecken, kaschieren und allenthalben die Welt mit oberflächlichem Zeugs voll- und verstellen. Da Kunst - anders als das Leben stets als E-Kunst, kaum als zum alsbaldigen Verbrauch bestimmte U-Kunst begriffen - immer schon Schonung genießt aufgrund ihres Selbstverständnisses, ,zeitlos' zu sein, kann man bald das Leben vor lauter Kunst nicht mehr sehen, greifen die musealen Friedhöfe immer mehr und weiter um sich."

Also keine Kunst nur fürs Museum, keine Präferenz eines bestimmten Mediums allein, keine Schaffung einer Scheinwelt, keine Ästhetik um ihrer selbst willen. Totalkunst ist vielmehr Konzeptkunst, Ideenkunst. Nicht mehr das einzelne Kunstwerk in seinem endgültigen Stadium ist von Bedeutung, sondern seine Entstehung im Kopf, die Idee. So läßt sich auch in Timm Ulrichs' Oeuvre nicht ein eigener persönlicher Stil, eine Künstlerhandschrift", noch ein durchgängiges Sujet finden.

Er ist ständig auf der Jagd nach neuen Einfällen - und findet sie; die Materialisierung im Kunstwerk folgt stets dem Primat der Idee. Timm Ulrichs ziert und propagiert Graphiken, Bilder, Objekte, Bücher, Photos, Collagen, Assemblagen; Poesie, Musik, Film, Theater, Statistiken; Environments Aktionen, Performances; Ich-Kunst, Körper-Kunst, Natur-Kunst, Tier Landschafts-Kunst, "Placebo-Art". Der Mannigfaltigkeit der künstlerischen Gestaltungsmittel und der "Stile", sofern von solchen überhaupt gesprochen werden kann, entspricht die Komplexität seines Werkes, in dem häufig die traditionelle räumliche und zeitliche Dimensionierung aufgehoben scheint. [...]
 

Quelle:
Timm Ulrichs. Totalkunst: Angesammelte Werke, Katalogredaktion: Richard W. Gassen, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein 1984, S. 51ff.